Jeden Abend dasselbe Spiel, du wolltest weniger essen, nimmst dir dann doch noch einen kleinen Nachtisch, ein fettreduzierter Proteinpudding kann ja nicht schaden.
Dann fallen dir die Pralinen ein, die du neulich auf der Arbeit bekommen hast. Du isst nur eine! Oder zwei. Und schon ist die Schachtel leer. Dein Mund ist süß und klebrig, du fühlst dich elend. Vielleicht ein paar Chips und ein Glas Wein, um den Zucker auszugleichen? Ups, da ist die Tüte schon leer! Morgen hältst du dich aber wirklich an deine Vorsätze.
Das wiederholt sich, Abend für Abend. Irgendwann reicht’s dir und du suchst im Internet nach „Fressattacken“. Fressattacken verhindern, Fressattacken stoppen, Fressattacken während einer Diät. Die Tipps hören sich alle vernünftig an. Aber du nimmst schon viel Eiweiß und genügend Fett zu dir, achtest auf Ballaststoffe, hältst dich an ein moderates Kaloriendefizit und das süße Frühstück ist gestrichen, seit du 8 warst.
All die Tipps gegen Fressattacken bringen nichts, weil der Grund für deinen Heißhunger und Essdrang nichts mit deiner Ernährung zu tun haben. Die Fressattacken entstehen nicht dadurch, was du isst, sondern dadurch, warum du isst.
Jetzt auch als Folge 30 des Schlanke-Gedanken-Podcasts!
1. Was sind Fressattacken?
Bei einer Fressattacke schaufelt man sich mindestens einen Liter Eis und zwei Tafeln Schokolade rein?
Nö.
Wie gesagt: Fressanfälle haben für mich nichts damit zu tun, was du isst, sondern warum du isst.
Du musst keine Massen an zucker- oder fetthaltigen Lebensmitteln zu dir nehmen, um eine Fressattacke zu haben. Du kannst auch Äpfel mit Mandelmus vertilgen. Oder einen pürierten Hokkaido-Kürbis mit Kokosmilch. Oder Sojajoghurt mit Beeren und Reiswaffeln (Cornflakes-Ersatz!).
Nahrungsaufnahme wird zur Fressattacke, wenn das Essen eine Vermeidungsstrategie darstellt. Eine Strategie, um unangenehmen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen zu entgehen.
Das sind dann die psychischen Fressattacken.
Es gibt auch physische Fressattacken, diese treten aber seltener auf, als die meisten annehmen. Nämlich vor allem bei Mangel- oder Unterernährung.
Mangelernährung bedeutet nicht, zwischen den Mahlzeiten zu fasten oder ständig Heißhunger auf Schokolade zu haben (Magnesiummangel!).
- Mangelernährung ist „die Bezeichnung für eine ungenügende oder falsch zusammengestellte Ernährung, die im Gegensatz zur Diät nicht ärztlich verordnet (indiziert) ist.“ (Quelle)
- Als Unterernährung „wird eine Form der Mangelernährung bezeichnet, die durch eine chronische Verminderung der Energiezufuhr zu Stande kommt (quantitative Mangelernährung). Unterernährung (BMI<18,5) ist vor allem in den Entwicklungsländern weit verbreitet, sie kommt aber auch in den westlichen Industrieländern aufgrund von Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa und bei Menschen in Altenpflegeheimen vor.“(Quelle)
2. Was sind die Ursachen für Fressattacken?
Schauen wir uns die Vermeidungsstrategie Essen genauer an.
Es gibt Menschen, die essen, um ihren körperlichen Hunger zu stillen. Und es gibt Menschen, die essen, um ihren emotionalen Hunger zu stillen.
Du bist traurig – du isst.
Du fühlst dich gestresst – du isst.
Du bist einsam – du isst.
Du bist müde – du isst.
Du bist wütend – du isst.
Du bist nervös – du isst.
Das Blöde: Du merkst gar nicht, dass es sich um emotionalen Hunger handelt. Der Essdrang tarnt sich als körperliches Verlangen nach Nahrung. Und dann liegt es ja auch nahe, all die Tipps gegen Fressattacken zu befolgen, die sich auf die Ernährung beziehen (mehr Eiweiß, mehr Fett, mehr Gemüse, weniger Zucker usw.).
Und noch blöder: Du merkst nicht, dass du diese Gefühle und Empfindungen hast. Bevor du Traurigkeit oder Einsamkeit oder Wut als solche wahrnehmen kannst, haben sie sich schon als Heißhunger nach Süßem getarnt und dir entgeht zweierlei:
- Deine Gefühle und Empfindungen an sich und
- deine emotionale Bedürftigkeit (dein emotionaler Hunger: was wollen dir deine Gefühle und Empfindungen sagen)
Essen macht, dass du dich eine Zeitlang besser fühlst.
Es ist leicht, Lebensmittel zu missbrauchen, um die Stimmung zu heben und unangenehme Vorgänge zu vergessen.
Leider funktioniert das nur kurzfristig. Nach der Fressattacke ist alles wie vorher. Die Gefühle und körperlichen Empfindungen sind noch da. Und du fühlst dich elend und hast ein schlechtes Gewissen, weil du zu viel gegessen hast.
Auf der funktionalen Ebene kann man Essen durchaus mit Drogen vergleichen (wenn auch nicht auf der stofflichen).
Ich möchte dir an einem persönlichen Beispiel zeigen, wie sich ein Gefühl als Essdrang tarnt.
Als Kind habe ich gelernt, stark zu sein. Mama und Papa konnte ich gefallen, wenn ich schwache Gefühle nicht zeigte und nicht rumjammerte. Das Ergebnis: Irgendwann nahm ich diese Gefühle selber nicht mehr wahr. Und sie tarnten sich als Essdrang. Nach dem Studium arbeitete ich einige Jahre in verschiedenen russischen Städten als Deutschlehrerin. Es war schwer, Freunde zu finden: Die Russ:innen waren entweder zu jung oder bereits verheiratet, die Ausländer:innnen kehrten nach ein paar Monaten in ihre Heimatländer zurück. Am letzten Ort verbrachte ich zwei Jahre. All die Zeit habe ich nicht gemerkt, dass ich einsam war. Das einzige, was ich spürte, war der Drang zu essen. Zu essen, zu essen, zu essen, ohne jemals wieder aufzuhören. Ich taumelte von Fressattacke zu Fressattacke (und von Diät zu Diät, aber dazu gleich mehr) und spürte nicht, was mir fehlte.
Gefühle sind subtil. Sie schreien nicht, um auf sich aufmerksam zu machen. Es braucht Achtsamkeit und Kontakt zu sich selbst, um die eigenen Gefühle wahrzunehmen. Das wird uns jedoch nicht beigebracht; wir lernen, im Kopf anwesend zu sein, aber nicht im Körper.
Können Diäten Fressattacken verursachen?
In den einschlägigen „7 Tipps gegen Fressattacken“-Artikeln wirst du zuverlässig auf den Ratschlag stoßen, nicht zu wenig zu essen, um Fressattacken zu vermeiden.
Aber: Diäten können Heißhunger und Fressanfälle auslösen, aber nicht verursachen.
In diesem Beitrag geht es um psychische Fressattacken, nicht um physische. Jede:r, der:die sich runterhungert und nichts mehr isst, wird irgendwann Fressattacken bekommen.
Aber damit eine (moderate) Diät bei dir Fressanfälle auslösen kann, muss eine Voraussetzung erfüllt sein: Du neigst zu emotionalem (genauer: emotionsregulierendem) Essen.
Wenn Essen dir nichts gibt, du keine Befriedigung erfährst, dich mit Essen nicht betäuben kannst (soll es geben!), wirst du auch in einer Diät höchstwahrscheinlich keine Fressattacken bekommen.
Das sind dann die Leute, die gelassen ein Kaloriendefizit einhalten, in sechs Monaten zwanzig Kilogramm abnehme und sich wundern, warum es anderen so schwer fällt, abzunehmen.
Bei emotionalen Esser:innen sieht die Sache anders aus. Wenn du aus emotionalen Gründen isst und eine Diät machst, fehlt dir das Essen als Kompensation.
Im Grunde genommen bringt die Diät bringt das emotionale Essen ans Licht. Du schränkst dich beim Essen ein, daher fällt der Essdrang mehr auf.
Solange du essen darfst, was du willst, kannst du jederzeit emotional essen, ohne es zu merken. Erst die Einschränkung bringt den emotionalen Hunger zum Vorschein.
Und all die unterdrückten Gefühle brechen irgendwann in Form eines Fressanfalls hervor. Eine Diät beschleunigt diesen Prozess, verursacht ihn aber nicht.
3. Fressattacken verhindern: Diese Tipps helfen nicht!
Die meisten Tipps gegen Fressattacken, die du im Internet findest, sind wirkungslos, weil sie nicht das emotionale Essen als die dahinterliegende Ursache adressieren.
Ablenkung
Du kannst Gefühle nicht langfristig unterdrücken. Das ist wie mit einem Ball, den du unter Wasser zu halten versuchst. Irgendwann ploppt er wieder an die Oberfläche.
Ein Schaumbad im Kerzenschein und ein Telefonat mit der besten Freundin sind prima, unterdrücken den Fressanfall aber nur. Oder genauer: Sie unterdrücken die Gefühle, die du mithilfe des Essens unterdrücken wolltest.
Weniger Zucker
Ach, wäre es doch der Blutzuckerspiegel, der die Fressattacken auslöst!
In der Theorie ist alles so einfach: Du isst etwas Zuckerreiches oder schnelle Kohlenhydrate (ein helles Brötchen mit Marmelade), dein Blutzuckerspiegel schnellt in die Höhe, um eine Stunde später wieder abzusinken. Das Absinken erzeugt ein Verlangen nach Energie, meist in Form von Zucker und schnellen Kohlenhydraten.
Die Lösung: Reduziere den Zucker, ersetze die Lebensmittel aus hellem Auszugsmehl gegen Vollkornprodukte und iss zu jeder Mahlzeit Eiweiß und Gemüse.
In meiner Erfahrung kennen sich viele Menschen, die unter Fressanfällen leiden, sehr gut mit Ernährung aus und ernähren sich gesund und vollwertig. Vollkornbrot mit Mandelmus statt Marmeladenbrötchen, Overnight Oats mit Proteinpulver statt Cornflakes. Und sie haben trotzdem Fressattacken!
Mehr Protein
Hiermit verhält es sich wie mit „Iss weniger Zucker“. Millionen Menschen auf der Welt nehmen zu wenig Eiweiß zu sich. Leiden sie alle unter Fressanfällen?
Eiweißreiche Lebensmittel können* dich länger satt machen. Aber sie können nicht verhindern, dass du eine Fressattacke bekommst.
*Hier stehe ich auf der Seite des intuitiven Essens: Wenn du überhaupt keine Lust auf Kichererbsen, Magerquark oder Hähnchenbrustfilet hast, werden dich diese Dinge nicht zufriedenstellen. Sondern du wirst anschließend zum Honigbrötchen greifen oder dir einen Pfannkuchen in die Pfanne werfen. Übrigens nicht, weil dein Körper es so will, sondern aus Rebellion gegen den Druck, den du dir machst.
Bewegung
Geh raus an die frische Luft, dann verschwindet der Essdruck von selbst!
In meiner Russland-Zeit befolgte ich diesen Ratschlag und lief stundenlang durch die Gegend. In 9 von 10 Fällen stoppte ich anschließend vor einem Supermarkt, um mich mit Keksen, Eis und Schokolade einzudecken. In 1 von 10 Fällen verschob ich den Essanfall auf den folgenden Tag.
Bewegung bei Heißhunger ist eine Ablenkungsstrategie und damit wirkungslos. Im schlimmsten Fall vertreibst du den Teufel mit dem Beelzebub und entwickelst eine Sportsucht.
Mehr Schlaf
Viele Menschen haben mehr Appetit, wenn sie (zu) wenig geschlafen haben. Besonders auf süße und deftige Speisen. Essen hilft kurzfristig, da es Energie spendet.
Du hast Fressattacken und schläfst dauerhaft weniger als sieben Stunden pro Nacht? Gut möglich, dass der Schlafmangel deinen Essdrang verstärkt. Er ist aber nicht seine Ursache.
Mein Tipp: Kümmere dich gut um dich selbst und geh früher ins Bett. Beobachte, ob sich der Heißhunger verändert. Und dann mache weiter mit den Tipps im nächsten Abschnitt. 😉
Die üblichen Ratschläge, um Fressattacken zu stoppen, können helfen, müssen es aber nicht.
Das liegt daran, dass sie nicht die eigentlichen Bedürfnisse adressieren, die hinter dem Essdrang stecken. Wenn du todtraurig bist, ist es egal, ob du ein weißes Brötchen mit Marmelade zum Frühstück isst oder einen warmen Haferbrei mit Mandelmus.
Eine Person, die nicht zu emotionalem Essen neigt, würde das Brötchen essen und es wäre egal. Sie wäre einfach traurig und würde nichts tun*, um die Trauer wegzuessen. Womöglich hätte sie überhaupt keinen Appetit und würde gar nichts herunterbekommen.
*Zumindest nicht essen. Jede:r hat eine andere Kompensationsstrategie. Es gibt ja auch noch Rauchen, Trinken, Serienbingen…
4. Fressattacken stoppen: 5 Tipps
Okay. Du weißt jetzt, woher Fressattacken kommen und was nicht gegen sie hilft.
Aber was kannst du tun, um Fressattacken zu stoppen?
Nimm den Druck raus
Wie sieht dein Alltag aus? Bist du im Funktionsmodus und gönnst dir keine Ruhe?
Druck erzeugt Gegendruck. Je strenger du zu dir selber bist, je mehr du dir auflädst, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich der Druck in Form einer Fressattacke entlädt.
Entspann dich
Ich kenne viele Menschen, die essen, um sich zu entspannen. Essen muss man schließlich. Essen darf man. Da braucht man keine Ausrede.
Aber einfach mal nachmittags auf dem Sofa herumliegen und nichts tun? Luxus, den du auf später verschiebst. Später – nach dem Essen.
Das geht so nicht. Du brauchst Ruhe. Leere, Nichtstun. Langeweile. Mit der Methode des radikalen Hinlegens ist es mir gelungen, viele Situationen, in denen ich mich normalerweise überessen hätte, zu vermeiden.
Fühle, was du fühlst
Wie fühlst du dich jetzt? Bist du ruhig oder nervös? Fröhlich oder bedrückt? Ängstlich oder gelassen? Wütend oder besorgt?
Du hast keine Ahnung? Keine Sorge, du bist nicht allein. Viele Menschen sind die meiste Zeit nicht mit ihren Gefühlen verbunden, sondern befinden sich vor allem im Kopf. Denken, denken, denken – abgeschnitten vom Körper.
Die Ursache für Fressattacken ist emotionales bzw. emotionsregulierendes Essen. Wenn du keine Fressattacken mehr haben willst, darfst du dein emotionales Essverhalten auflösen. Der erste Schritt ist, in Kontakt mit deinen Gefühlen zu kommen und zu spüren, was da ist. Eine ausführliche Anleitung, wie du emotionales Essen stoppst, findest du hier: Schritt-für-Schritt-Anleitung: Emotionales Essen erkennen und abgewöhnen [inkl. Test „Bist du eine emotionale Esserin?“]
Selbstmitgefühl
Selbstliebe ist ein großes und wie ich finde, auch ziemlich anstrengendes Wort. Du musst dich selber nicht lieben, es reicht, wenn du nett zu dir bist. Mitgefühl mit dir hast. Mit dir umgehst wie mit einer guten (der besten!) Freundin.
Wie sprichst du mit dir? Wertest du dich ab, deinen Körper, dein (Ess-)Verhalten?
Du denkst, dass mehr Disziplin dich deinen Zielen näherbringt. Dass du dich einfach nur mehr zusammenreißen musst. Das Gegenteil ist der Fall (siehe Punkt 1: Nimm den Druck raus).
Sprich mit dir wie mit einem kleinen Kind. „Ja, das war nicht einfach. Du hattest einen langen Tag. Du bist müde und abgespannt. Wie kann ich dir jetzt etwas Gutes tun, was brauchst du?“
Notfalltipps: Fressattacke in letzter Minute stoppen?
Du bist kurz davor, dich zu überessen – gibt es etwas, um den Fressanfall in letzter Minute zu verhindern?
Wenn du nicht langfristig an dir arbeitest (siehe vorhergehende Punkte), ist kein Last-Minute-Tipp in der Lage, eine Fressattacke aufzuhalten.
Du setzt dich unter Druck, beschimpfst dich, treibst dich an, spürst nicht, was eigentlich mit dir los ist und erwartest, dass ein Anruf bei deiner Freundin oder ein neuer Nagellack dich aus der Misere holt?
Was vor einem Fressanfall hilft, ist Sitzen und Atmen.
Das Problem: Du musst dich hinsetzen und atmen. Und wenn das so einfach wäre, könntest du auch genauso gut einfach nichts essen und etwas anderes machen.
Um Fressattacken ein für allemal zu stoppen, musst du an dir arbeiten. Lernen, nett zu dir zu sein. Loszulassen. Genießen. Fühlen, was es zu fühlen gibt.